1. Kontinuität und Innovation

Wiens soziale Wohnbaupolitik begann mit einem Reformprogramm in den 1920er-Jahren. Um die vom Habsburgerreich geerbten erbärmlichen Wohnverhältnisse zu verbessern, ließ die sozialistische Stadtregierung in großen Wohnhausanlagen mehr als 65.000 kostengünstige Wohnungen neu errichten. Dieses unter dem Namen „das Rote Wien“ bekannte Wohnbauprogramm umfasste auch großzügige soziale Infrastrukturen und wurde von vielen namhaften ArchitektInnen umgesetzt. Viele Gemeindebauten gelten heute als Sehenswürdigkeiten – so zum Beispiel der Karl-Marx-Hof oder der George-Washington-Hof. Der Bürgerkrieg und der faschistische Putsch von 1934 bereiteten dem Wohnbauprogramm ein jähes Ende. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich 1938 wurden Tausende JüdInnen und politische GegnerInnen aus ihren Wohnungen vertrieben und im Zweiten Weltkrieg rund zwanzig Prozent des Gesamtwohnungsbestands zerstört. Nach dem Krieg wurde Wien 1945 – wie Berlin – in vier Sektoren geteilt. Die Stadt nahm umgehend ihr soziales Wohnbauprogramm wieder auf. Obwohl die Nachkriegsbauten nur selten die architektonische Qualität der Bauten aus den 1920er-Jahre erreichten, war ihre Quantität dennoch beeindruckend. Jährlich entstanden bis zu 10.000 Wohneinheiten. Die Kritik an der Eintönigkeit dieser meist in Fertigteilbauweise errichteten Bauten führte in den 1970er-Jahren indes zu einer größeren architektonischen Vielfalt. Es entstanden experimentelle und themenorientierte Bauwerke wie die Terrassen­türme von Alt-Erlaa, die sich den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen stellten.

Die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“, der weniger als 70 Kilometer von Wien entfernt verlief, führte ab 1989 zu einer Einwanderungswelle und einem starken Bevölkerungswachstum. Um hochwertigen Wohnraum bei gleichzeitig stabilen Baukosten zu gewährleisten, führte die Stadt die Bauträgerwettbewerbe ein. Sie beruhen auf einem innovativen 4-Säulen-Modell. Jedes geförderte Wohnprojekt – jährlich entstehen etwa 7.000 bis 13.000 geförderte Wohnungen – wird von einer interdisziplinären Jury nach vier Kriterien bewertet: soziale Nachhaltigkeit, Architektur, Ökologie und Ökonomie. Mit der Einführung dieser Verfahren konnten die sozialen und technischen Standards der Neubauten angehoben und zugleich die Baukosten gesenkt werden. Seit 1984 werden die Baugründe vom stadteigenen Wohnfonds Wien erworben und entwickelt. Die meisten Wohnbauten werden von gemeinnützigen Bauträgern errichtet und in Form geförderter Mietwohnungen verwaltet. Sowohl bei der Planung als auch bei der Verwaltung werden die Bewohne­rInnen zur Beteiligung angeregt. Die Grundrisse umfassen die gängigen Ein- bis Fünf-Zimmer-Einheiten, doch gibt es auch spezielle Wohnformen wie Wohngemeinschaften oder betreutes Wohnen, die die demografischen Veränderungen und Lebensstile widerspiegeln. Die Mieten bleiben konstant, die Mietverträge sind unbefristet. Das Jahresbudget der Wiener Wohnbauför­derung beträgt etwa 600 Millionen Euro. 62 Prozent der Wiener Bevölkerung leben in geförderten Wohnungen, ein Teil davon in den 220.000 Gemeindewohnungen, ein weiterer Teil in 200.000 Wohnungen von gemeinnützigen Wohnbauträgern.

Das derzeitige Wohnbauprogramm umfasst unterschiedlichste Typologien: Großprojekte auf innerstädtischen Brach­flächen, kleinere Baulückenbebauungen, aber auch verdich­teten Flachbau in städtischen Randzonen. Circa siebzig bis achtzig Prozent aller Neubauten in Wien werden heute gefördert, was der Stadt starken Einfluss auf die Quantitäten, Vertei­lungen und Qualitäten gibt.

Text: Wolfgang Förster